Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil(SPD) hat gemeinsam mit den Landtagsabgeordneten Editha Westmann(CDU) und Rüdiger Kauroff(SPD) das Frauenerzählcafé unseres Projekts WAKE UP! in Garbsen – Auf der Horst besucht. Eine Gelegenheit für die Frauen, von ihrem Leben als Migrantinnen in Deutschland zu berichten und ihre Sorgen und Wünsche zu teilen.
Ein Mikrokosmos in der Vorstadt
Seidene Kopftücher und prächtige, kunstvolle Kleider in allen erdenklichen Farben und Mustern, dazwischen blonde, schwarze, graue Haare, teils schlicht geflochten, teils zu aufwändigen Frisuren geformt, zieren den ansonsten recht schmucklosen, zweckmäßigen Raum der „Begegnungsstätte“ in Garbsen – Auf der Horst.
Hier findet jeden Dienstagmorgen das Offene Interkulturelle Frauenerzählcafé der Stiftung HELP statt. Etwa 800 Frauen haben insgesamt, über die Jahre verteilt, an dem Projekt teilgenommen. Viele von ihnen haben hier erstmals den Mut gefunden, in die Öffentlichkeit zu gehen und sich Arbeit zu suchen, obwohl sie teilweise bereits jahrzehntelang in Deutschland leben.
Zur Zeit sind es in der Regel 40 bis 50 Migrantinnen, hauptsächlich Türkinnen, die sich hier allwöchentlich zum Austausch treffen, an Deutschkursen teilnehmen, Radfahren oder Schwimmen oder allein lesen und schreiben lernen.
Die Stimmung unter den etwa 30 Frauen ist irgendwo zwischen vorfreudig und angespannt. Es gibt Getränke und allerlei Gebäck. Man spricht nahezu ausnahmslos türkisch. Hauptthema scheint zunächst die zufriedenstellende Verteilung von kahve und çay – Kaffee und Tee. Das Essen rührt niemand an.
Draußen, auf dem rot gepflasterten am Herouville St.Clair – Platz, dessen kantige 70er-Jahre Vorstadt-Architektur etwas feindseliges und doch vertrautes hat, ist Markt. Ein paar Händler bieten Gemüse, Fleisch und Milchprodukte an. Ein Mann mit Turban verkauft Kleider mit floralen Mustern, braune Sakkos und neonfarbene Trainingsanzüge zu Billigpreisen.
Garbsen – Auf der Horst ist das, was man als sozialen Brennpunkt bezeichnet.
Obwohl sich die Lage seit den 80er Jahren deutlich verbessert hat, ist es immer noch ein Ort, an dem überdurchschnittlich viele Migranten leben, an dem Kriminalität und Arbeitslosigkeit hoch sind. Ein Mikrokosmos, den die meisten Hannoveraner nur aus den Polizeimeldungen der HAZ kennen. Und von der Anzeigetafel der U-Bahnlinie 4, die hier endet.
Entsprechend selten ist Besuch von solch hoher Stelle wie an diesem Freitag.
Durch die verglasten Fronten der Begegnungsstätte bemerkt man schnell die aufkommende Unruhe vor dem Haus, eine untypische Geschäftigkeit macht sich bemerkbar. Die Gespräche verstummen augenblicklich, als der Tross aus Politikern, Security- und Pressemitarbeitern den Raum betritt.
Die Stiftung HELP-Mitarbeiterinnen Andrea Griesel und Filiz Aktar begrüßen die Abgeordneten, stellen sich und das Projekt vor. Danach sind die Politiker an der Reihe, erzählen von ihrer Arbeit, aus ihrem Privatleben und warum sie heute hier nach Garbsen gekommen sind. Um sich zu unterhalten, den direkten Dialog zu suchen, sagt der Ministerpräsident. Er habe noch nie vor so einer großen Gruppe Frauen gestanden, die sich zusammentun, um ihr Leben als Migrantinnen in Deutschland selbst in die Hand zu nehmen.
Als währenddessen ein Handy klingelt, schaut ein Großteil strafend zur Besitzerin des Telefons, vereinzelt hört man bissiges Flüstern. Man merkt, wie wichtig der Termin allen hier ist. Besuch aus einer für viele fremden, unverständlichen Welt. Eine Art von Aufmerksamkeit, die man hier nicht oft bekommt.
„Vieles, was wir erreicht haben, geht wieder kaputt“
Jetzt würde er gerne von den Frauen wissen, wer sie seien, wo sie herkämen, was sie bewege, sagt Stephan Weil. Einzelne Frauen stehen auf, erzählen in oft gebrochenem Deutsch von ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihren Ängsten und Hoffnungen.
Eine Dame wünscht sich mehr Freizeitangebote in Garbsen, eine Unternehmerin beklagt sich über die hohe Steuerlast und dass sie keine Mitarbeiter fände, weil diese vom Amt genau so viel Geld bekämen.
Eine andere, die keine deutsche Staatsbürgerin ist, würde sich wünschen an der Bürgermeisterwahl in Garbsen teilnehmen zu dürfen.
Eine Mutter wünscht sich Änderungen im Bewerbungsverfahren, weil ihre Kinder trotz Studiums keine Stellen fänden, wohl wegen ihrer türkischen Namen. Auch andere bemerken seit einigen Jahren einen Rechtsruck oder eine Türkenfeindlichkeit in der Gesellschaft.
Sie hätte gerne den Nachbarn zurück, den sie hatte, als sie mit 7 Jahren nach Deutschland kam, der sie so nett angelächelt hat, sagt Filiz Aktar.
„Die Lage hat sich verschlechtert“, findet sie, die schon seit 41 Jahren hier ist „Vieles, was wir in den letzten Jahren erreicht haben, geht wieder kaputt“ .
Einige führen dies auf die Flüchtlingskrise zurück, seit der die Deutschen ihre Einstellung zu Ausländern geändert hätten und nicht zwischen ihnen, den Türken, die schon länger da sind und den neuen Flüchtlingen unterscheiden würden.
Andere sehen die politische Lage in der Türkei und die Sichtweise der deutschen Medien in der Verantwortung. Ob er nicht dafür sorgen könne, dass die deutschen Medien in der Angelegenheit anders berichteten, fragt eine Dame den Landesvater, dem man für einen Wimpernschlag die Verwunderung ansieht. Außerdem, so berichten mehrere, fühlten sie sich selbst unsicherer im Viertel, seit der Flüchtlingskrise. Gerade nach Einbruch der Dunkelheit.
Auch hier sind Vorurteile gegen die Neuankömmlinge groß. Aus der Sicht vieler hier haben die heute nämlich die Unterstützung, die ihnen damals verwehrt war.
Erklärungsversuche und Hoffnungsschimmer
Punkt für Punkt geht Weil die einzelnen Fragen durch, während sich die beiden anderen Abgeordneten im Hintergrund halten. Er gibt einigen Recht, sagt es gibt Versuche Bewerbungsverfahren zu anonymisieren, erklärt den Aufstieg der AfD, sagt, der Staat habe große Fehler gemacht im Zuge der Flüchtlingswelle von 2015.
Er zitiert Kriminalitätsstatistiken, denen zu Folge es in Garbsen und ganz Niedersachsen so sicher sei, wie schon lange nicht mehr und schlägt einen Bogen dazu, dass ihr Unsicherheitsgefühl ein subjektives sei, das nicht nur sie sondern eben auch viele Deutsche plage.
Mit viel diplomatischen Feingefühl erläutert er den Anwesenden die Sichtweise der Deutschen auf die türkische Innenpolitik, auf Grundrechte wie Pressefreiheit, sagt, dass viele Deutsche enttäuscht seien, dass so viele Türken in Deutschland diese Politik unterstützten, bemängelt dabei aber mangelnde Differenzierung seiner Landsleute und betont mehrmals, dass er da „absolut kein Experte“ sei.
Am Ende plädiert Weil ausführlich dafür, Kontakte zu Deutschen zu suchen, ihre Kinder darin zu bestärken, auch Freundschaften mit deutschen Kindern zu pflegen und machte mehrmals deutlich, dass die Mehrheit der Deutschen Demokraten und für eine offene Gesellschaft seien. Nickende Köpfe wohin man sieht.
Überhaupt bekommt man hier nicht den Eindruck, als gäbe es tatsächlich große Meinungsverschiedenheiten zwischen den ethnisch Deutschen, den Regierenden und den Migrantinnen, die man hier trifft. Aber dennoch ist das Verlangen nach Austausch und Kommunikation ungebrochen, vielleicht sogar aktueller als je zuvor.